Mehr als zehn Jahre habe ich nun gebraucht, habe jede Ausgabe der altehrwürdigen Wochenzeitung „Die Zeit“ gelesen. Gestern nun fand ich den ersten Rechtschreibfehler. Oder Tippfehler. Oder Setzfehler. Oder wie auch immer das heißt. Im Interview mit der Merkel-Biografin Evelyn Roll. Ein klassischer Fehler: Statt „dass“ (oder daß) stand dort nur „das“. Ich habe den Satz mehrmals lesen müssen, um ihn zu verstehen, denn ich las immer nur „das Merkel“. Das Merkel?

Nicht ganz zehn Jahre zurück gab es noch einen anderen Abonnenten in unserer WG. Deshalb lag neben dem Klo immer die Titanic. Dort hat man jetzt eine Partei gegründet. DIE PARTEI. Wie einst Godfather Christoph Schlingensief seine Chance2000. Titanic-Chefredakteur und Vorsitzender der PARTEI Martin Sonneborn hat in einem Interview mit der Tageszeitung „junge Welt“ auf die Frage: „Das Merkel? Feministisch korrekt klingt das nicht …“ geantwortet: „Das ist die Sprachregelung unserer Partei. Wir haben einen schmierigen, niveauarmen und personalisierten Wahlkampf gegen das Merkel angekündigt. Den werden wir jetzt führen.“ Das Merkel! Es gibt es wirklich.

Okay, das ist Satire. Die darf das. Aber auch die Schriftstellerin Juli Zeh hat in einem Interview mit der „Brigitte“ diesen Begriff aufgegriffen: „Wissen Sie, als Helmut Kohl die heutige CDU-Vorsitzende aus dem ostdeutschen Zauberzylinder zog, taufte er sie ‚das Mädchen‘. Für mich und viele andere war sie von Anfang an ‚das Merkel‘. Konsequenterweise müsste das Merkel auch das Kanzler werden.“ Ist das eigentlich noch politisch korrekt? In einer Frauenzeitschrift sich so zu äußern? Aber wer will schon politisch korrekt sein? Wir jedenfalls nicht.

Dennoch ist es ein Phänomen, wie Angela Merkel in der Öffentlichkeit dargestellt und wahrgenommen wird. Die einen fürchten sich um das Ansehen Deutschlands, wenn beim Empfang von Staatsgästen eine Frau die Militärparade abschreitet (immerhin noch besser als Rollstuhl fahren). Die anderen wollten Gesine Schwan als Bundespräsidentin – auch weil sie eine Frau ist. Und irgendwo aus dieser linken Ecke kommen nun die Beschimpfungen, die Angela Merkel als „das Merkel“ bezeichnen. Eine verkehrte Welt.

Die Reduzierung von Angela Merkel auf „das Merkel“ ist jedoch nichts anderes, als sich Gedanken über gut oder weniger gut sitzende Hosenanzüge zu machen. Oder über Schwitzflecken. Ist sie überhaupt noch „die Merkel“? Also eine Frau? Oder ist sie wirklich schon „das Merkel“ geworden? Eine Person, bei der die negierten Äußerlichkeiten wichtiger geworden sind als ihre Fähigkeit, die Bundesregierung zu führen. Oder die größte Oppositionsfraktion. Oder was auch immer. Man macht es sich zu leicht, Angela Merkel einfach nur auf diese Weise zu diffamieren.

Als Kohl noch Kanzler war, hieß es „Birne muss weg“, wobei die Betonung eindeutig auf „muss weg“ lag. Und jeder, der diesen Spruch auf den Lippen führte, wusste auch, warum Birne weg musste. Dafür gab es gute Gründe. Jeder Jungsozialist konnte aus dem Stehgreif die sieben Todsünden der Kohl-Regierung herunterbeten. Doch wer kennt heute die inhaltlichen Unterschiede zwischen Merkel und Schröder?

Gesundheitsprämie und Bürgerversicherung – die beiden Begriffe könnten aus derselben Werbeagentur stammen. Progressive Besteuerung und Einheitssteuersatz bei Streichung aller Subventionen – welcher Bürger weiß schon, bei welchem Modell er mehr Geld in der Tasche haben wird? Die politischen Positionen taugen schon lange nicht mehr für Kampfparolen, weil den Bürgern der Bezug abhanden gekommen ist. Deshalb taugt Angela Merkel auch nicht mehr als Schreckgespenst. Wie einst Helmut Kohl. Oder der selige Franz-Josef Strauß.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Angela Merkel Kanzlerin wird (mit welcher Koalition auch immer). Erst dann wird man sehen, was sie wirklich drauf hat. Vielleicht wird sie mit ihrer Politik überraschen. Vielleicht nur dadurch, wie sie sich an die Spitze gemogelt hat. Das wird dann ‚das Merkel-Phänomen‘ sein. Wer sie jetzt nur als „das Merkel“ diffamiert, wird sich dann wünschen, sich früher mit ihr inhaltlich auseinandergesetzt zu haben. Aber vielleicht müsste sich dann mancher Rot-grün-Wähler eingestehen, dass „das Merkel“ bessere Politik macht als die eigene Mischpoke.